Schätze im Wüstensand
von Margit Heyn (erschienen in der Badischen Zeitung, Januar 2008)
Mit dem Bus über den Land- und Seeweg nach Libyen — wer kommt, hat die Sehenswürdigkeiten fast für sich allein
Wir kommen mit dem Schiff übers Mittelmeer — wie die Phönizier vor mehr als 3000 Jahren, die Griechen im 7. Jahrhundert vor Christus und die Römer, die im 2. Jahrhundert vor Christus dort die römische Provincia Africa gründeten. Wir kommen aber nicht als Eroberer oder Besatzer sondern als neugierige Besucher nach Libyen, das sich jahrzehntelang dem Tourismus verschlossen hat. Eine gehörige Portion Pioniergeist ist für eine Reise in das nordafrikanische Land nötig. Etwa 200 000 westliche Ausländer — darunter viele Kreuzfahrt-Passagiere, die nur einen Tag an Land gehen — besuchen jährlich meist in Gruppen das Land, das inzwischen nicht mehr zu den so genannten "Schurkenstaaten" zählt: Schließlich hat Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi, seit 38 Jahren im Amt, dem Terrorismus 2003 abgeschworen.
Auch wir sind als Gruppe unterwegs, drei Wochen dauert die Reise per Bus und Fähre. In zwei Tagen gelangen wir vom europäischen Kontinent in die tunesische Hauptstadt Tunis und fahren von dort — nachdem wir die quirligen Souks von Tunis und den langen Sandstrand der Insel Djerba erlebt haben — weiter an die libysche Grenze. Zwei Wochen lang werden wir die sehr unterschiedlichen Seiten des Landes "erfahren" und allein in Libyen rund 4100 Kilometer zurücklegen.
Zuvor erleben wir eine Überraschung: Zwei Tage vor unserer Einreise ist ohne Vorankündigung ein Gesetz in Kraft getreten, wonach Touristen eine beglaubigte arabische Übersetzung ihrer Daten im Pass haben müssen. Die Übersetzung bekommen wir kurzfristig von der deutschen Botschaft in Tunis — die aber Stempel und Unterschrift zur Beglaubigung vergisst. Drei Reisegruppen stecken deshalb in dieser Nacht sieben Stunden im Niemandsland zwischen Tunesien und Libyen fest. Dann ist der deutsche Honorarkonsul von Djerba da, samt Stempel. Und wir dürfen einreisen. Unser libyscher Reiseführer und unser Polizist, beides vorgeschriebene Begleiter während der gesamten Zeit in Libyen, warten bereits auf uns.
Im Museum in Tripolis wandern wir durch die libysche Geschichte. Gut sichtbar gleich im Erdgeschoss grüßt uns "The Leader" von der Wand, daneben steht der mintfarbene VW-Käfer, mit dem Gaddafi vor seinem Putsch 1969 übers Land fuhr und Gleichgesinnte traf. Auch der Revolutionsführer wird uns, in unterschiedlichsten Posen von Plakaten blickend, durchs ganze Land begleiten.
Der Grüne Platz vorm Museum liegt zwischen der Medina, der Altstadt mit dem Basar, und dem italienischen Viertel der größten Stadt Libyens. Kleine Läden und mobile Stände bestimmen das Bild in den teils überdachten und engen Straßen des Basars. Jeans, Kleider, Stoffe, CDs, Zigaretten und Souvenirs wie Tuaregschmuck, Keramik, Wüstenfuchsfelle: Es gibt alles, das Angebot ist groß. Wer Basare aus anderen arabischen Ländern kennt, wird angenehm überrascht: In keinen Laden wird man hineingezogen, zu nichts gedrängt. Höflich wird man beraten und, auch wenn man nichts kauft, freundlich verabschiedet. In den Gassen am Rande der Medina, wo Berberfrauen ihre Produkte anbieten und Schuhmacher oder Schneider aus Nigeria mit ihrer mobilen Werkstatt oder Nähmaschine am Wegrand sitzen, werden wir fast belustigt beobachtet. Und bekommen fast überall ein arabisches "Schukran" oder englisches "Thank you" zur Antwort, wenn wir fragen, ob wir fotografieren dürfen.
Etwa 6,8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner hat das Land, davon ist gut ein Viertel aus Schwarzafrika und zum Teil illegal im Land. Die Mehrheit der Libyer wohnt im Küstenstreifen entlang des Mittelmeers. Dort, wo auch die Phönizier, Griechen und Römer siedelten und beeindruckende Ruinen hinterlassen haben. Im römischen Leptis Magna, rund 150 Kilometer östlich von Tripolis, lebten einst 100 000 Menschen. Ausgegraben ist maximal ein Viertel der antiken Stadt. Außer uns ist an diesem Tag nur eine französische Gruppe in den Ausgrabungen unterwegs, die Besucher verlieren sich in dem riesigen Gelände zwischen Thermen, Gymnasion, Theater, Markt, Latrinen, Tempeln und Forum.
Faszinierend auch das griechische Gegenstück mehr als 1000 Kilometer weiter östlich, in der landwirtschaftlich geprägten Cyrenaika: Griechen gründeten die Stadt Cyrene um das Jahr 630 vor Christus in 600 Metern Höhe an einem Höhenzug. Auch hier sind viele Tempel und Gebäude wieder aufgebaut: Zeus, Apollo und Demeter wurden dort verehrt.
Vom griechischen Theater geht der Blick weit zum Meer hinunter. Und überall darf man herumlaufen, alles anfassen, selbst antike Bodenmosaike sind nicht eingezäunt. Ein Blick auf die Landkarte verrät, dass Europa gar nicht so weit ist — von der grünen Cyrenaika, die an Südfrankreich erinnert, sind es übers Meer nach Kreta gerade mal 300 Kilometer Luftlinie, von Tripolis nach Sizilien rund 450 Kilometer.
Libyen hat nicht nur eine antike Vergangenheit. Wir machen einen dreitägigen Abstecher in die 600 Kilometer im Landesinneren liegende Oasenstadt Ghadames im Länderdreieck Libyen, Tunesien, Algerien. Weit auseinander liegen die Orte auf dem Weg dorthin, unterwegs besichtigen wir in dem Berberort Nalut den Ksar, die Burg mit den wabenartig gebauten Vorratsspeichern. Begleitet werden wir auf der Weiterfahrt nur von Hochspannungsleitungen, unterirdisch verlaufen Wasser- und Ölpipelines.
Etwa alle 70 Kilometer steht ein Sendemast für Fernsehen, Radio, Telefon. Meist ist daneben auch eine der im ganzen Land verbreiteten Kontrollstationen. An denen unser Polizist immer eine Kopie der Liste aller Reiseteilnehmer hinausreicht. Berge von Kopien haben unsere beiden Begleiter für die Fahrt dabei. Sowohl bei den Kontrollen als auch bei der Fahrt lernen wir die beiden schätzen: Denn ohne die arabische Sprache und Schrift tut man sich schwer in einem Land, das nur arabisch beschriftete Straßenschilder hat und wo trotz des Englischunterrichts ab einem Alter von zehn Jahren nur wenige Menschen eine Fremdsprache können. "What’s your name?" , ist oft der einzige Satz, unsere Gegenfrage verstehen die Kinder schon nicht mehr. Umgekehrt können aber auch wir kein Arabisch oder nur wenige Worte wie "Schukran" , danke.
Ghadames ist zweigeteilt: Die aus Lehmziegeln gemauerte und weiß gestrichene Altstadt mit ihren Palmengärten ist Weltkulturerbe. Die Menschen leben aber in den neu errichteten Häusern nebenan. Der Staat bemüht sich laut unserem libyschen Reiseleiter darum, die Tuareg und Berber sesshaft zu machen. Damit sie mit Wasser und Strom versorgt sind, die Kinder in die Schule gehen und der nächste Arzt erreichbar ist. Rund um alle Städte und Orte wachsen Rohbauten aus dem Boden. Jede libysche Familie, so das Ziel Gaddafis, soll im eigenen Haus oder der eigenen Wohnung leben. Wer baut, bekommt nahezu zinslos einen Kredit und hat 40 Jahre Zeit, ihn zurückzuzahlen. Anders leben die Gastarbeiter in der Altstadt von Tripolis: Rund um den Innenhof eines dreistöckigen Hauses ziehen sich Balkone. In jedem Zimmer wohnen acht Männer, erzählt ein Ägypter.
Die Tuareg in Ghadames leben vom Fremdenverkehr: Mit Allradautos fahren sie uns zu den Sanddünen, wo zwei Dromedare als Fotomodelle auf Kundschaft warten. Oben auf den Dünen treffen sich zum Sonnenuntergang all die Touristen, die heute in Ghadames sind — auch hier sind außer uns 16 gerade noch mal so viele da und stapfen durch den feinen Sand. Auf der Fahrt zurück an die Küste sehen wir unterwegs viele Dromedare: Sie werden in ganz Libyen wieder gezüchtet, liefern Milch, Fleisch, Leder.
Während unserer Fahrt begleitet uns streckenweise ein sehr ehrgeiziges Projekt Gaddafis. Er nennt es das achte Weltwunder: "The Man-Made-Great-River" . Nicht nur Erdöl fördert Libyen, das gut drei Prozent der weltweiten Erdölvorkommen hat und weltweit auf Rang acht der Reserven liegt (ein Liter Diesel kostet dort umgerechnet neun Cent, den Bus vollzutanken kostet knapp 50 Euro). Auch Wasser wird in riesigen Betonröhren mit vier Meter Durchmesser aus der Wüste an die Küste geleitet. Wir besichtigen eines der kreisrunden Reservoire. Riesige unterirdische Vorkommen fossilen Wassers machen das Projekt möglich — ob sie allerdings noch 50 oder nur 35 Jahre reichen, ist unklar. Fossiles Wasser, so eine wissenschaftliche Erklärung, wurde während der Entstehung der Erde im Inneren eingeschlossen, es hat keine Verbindung zu Oberflächenwasser.
Hunderte von Kilometer weit werden die Röhren verlegt, auf einer eigenen Straße transportieren Spezial-Laster die riesigen Teile und ziehen eine Staubfahne hinter sich her.
Dass der Tourismus in Libyen noch in den Anfängen steckt, wird bei den Übernachtungen sichtbar: Eine Hotelliste für die Reise gibt es vorab nicht. Und nicht immer landen wir in den Hotels, die die libysche Agentur, die uns betreut, vorgesehen hatte. So ist das Hotel nahe der Stadt Sirt — dort ist der Sitz des Volkskongresses, des höchsten Gremiums des Landes mit 2500 Mitgliedern — bei der Rückfahrt plötzlich wegen eines Kongresses ausgebucht und wir müssen 300 Kilometer früher als geplant übernachten. Hotelbetten sind in Libyen eher rar, etwa 12 000 soll es landesweit vor allem für Geschäftsreisende geben. Aber die Improvisation klappt, wir lernen unterschiedlichste Hotels kennen — von der etwas einsamen libyschen Ferienanlage am Strand bis hin zum sehr guten Hotel mitten in Tripolis.
Unser Rückweg führt uns wieder nach Tunis und von dort übers Mittelmeer nach Genua und zurück nach Freiburg — langsam ändern sich die Temperaturen, aus dem fast immer sonnigen Libyen mit 20 Grad und mehr landen wir im grauen deutschen Winter. Afrika ist plötzlich wieder weit weg.