Ort des Glücks

Von Andreas Strepenick in der Badischen Zeitung vom 20.04.2007
Roses und das Cap de Creus: die Costa Brava in Nordspanien ist im Frühjahr ein Traum für Wanderer

Hier also, in der Bucht zwischen Punta Falconera und dem Cap de Norfeu, tun wir endlich einmal etwas Unvernünftiges. Die Sonne hat uns durstig gemacht, fünf Stunden sind wir schon gewandert, und die Rucksäcke wurden immer schwerer. Flaschen drückten, während unsere Gedanken immer leichter wurden, denn das Cap de Creus ist eines der letzten Refugien der Natur an der katalanischen Küste. Hier nun also, in der unbedeutenden Badia de Montjoi, rasten wir. Das Mittelmeer plätschert an den Strand, und dann zählen wir durch und stellen fest, dass wir vier Flaschen Rotwein mitgenommen haben, also eine halbe Flasche für jeden von uns.

Ist das nicht ein bisschen viel? Die Luft flimmert in der Frühlingshitze am frühen Nachmittag, und obwohl wir alle wissen, welche Folgen jeder Schluck nun haben wird, flimmert es schon bald auch bei uns ein bisschen. Nur Stefan, der Jüngste, hält sich zurück. Aber wer hört jetzt schon auf den Jüngsten? Hans-Peter hat wieder viel eingekauft für das Picknick.Käse, Tomaten, Oliven, Gurken, Salami, Brot und den Rotwein eben, er wog eben noch so schwer im Rucksack, und jetzt fühlt sich plötzlich alles ganz leicht an im Kopf.

Siesta. Ein Nickerchen. Oh, bitte noch ein paar Minuten! Hans-Peter lässt aber keine lange Rast zu, denn wir haben noch einen guten Weg vor uns bei der Frühjahrswanderung nach Cadaqués. Im Sommer werden die Tage hier zu heiß sein für längere Touren, jetzt aber ist das Wetter fürs Laufen ideal. Es geht beständig auf und ab an den letzten Ausläufern der Pyrenäen — wenn man das Cap de Creus in unmittelbarer Nähe zu Südfrankreich so nennen will. Es riecht nach Rosmarin, Thymian und dem Baumharz der Pinien.

Die Wanderung, man ahnt es schon, wird sich länger hinziehen als geplant, vor allem wächst jetzt das Bedürfnis nach Wasser statt Wein. Daran haben wir irgendwie nicht gedacht. Die Sonne hat noch immer Kraft, also steigen wir ab zur nächsten Bucht. Dort mögen die Spanier keine Fremden, jedenfalls nicht in der Vorsaison. Wir dürfen eben unsere Wasserflaschen auffüllen an der Pooldusche des noch geschlossenen Hotels, da fordert uns ein Arbeiter sogar zum Weitergehen auf. Kein schöner Eindruck von Spanien, kein typischer, und auch nur ein ganz kurzer, denn jetzt kommt der letzte Aufstieg in fast unberührtes Land. Karge Gras- und Strauchlandschaft, Felsen, gelegentlich ein paar Bäume, eine verfallene Hütte fürs Vieh. So wird es auch vor Jahrhunderten ausgesehen haben, vor Jahrtausenden vielleicht, als Griechen und Römer Roses und das Cap de Creus für sich entdeckten.

Die Zivilisation ist endlich vergessen, wir haben sie Haus für Haus und Straße für Straße hinter uns gelassen, die Wunderwelt Barcelonas, die Hotelbunker der Costa Brava, Appartmentmonster, die Spielwiesen der Baukonzerne. Wir ließen das schon bedenklich dicht bebaute Roses zurück, den Fischerhafen, die letzten kleinen Villen und Bungalows an den Berghängen — und plötzlich waren da nur noch Berge und Buchten, Wiesen und Wald, kompromisslos und hoffentlich auf Dauer geschützt von den Gesetzen des Naturparks. Zu Fuß haben wir mit unserer kleinen Wandergruppe eine unsichtbare Grenze überschritten, genießen das Frühlingsgrün. Die Buchten sind wie gemalt, das Meer zählt zu den schönsten Tauchrevieren Spaniens. Die Costa Brava kann ein Albtraum sein, am Cap de Creus ist sie ein Ort des Glücks.

Wenn auch nur ein kleiner Ort. Rundherum scheint ganz Spanien Bauerwartungsland zu sein. Oder schon zugeklotzt. Empuriabrava, Zweizimmerwohnung, Blick auf die Bucht, 178 500 Euro. Villa, vier Schlafzimmer, 750 Quadratmeter Grundstück, 795 000 Euro. Tamariu, modernes Haus, drei Bäder, Pool, 1,05 Milionen Euro.

Mit Immobilien wird gehandelt wie früher mit Brot und Obst. Die so genannte erste Reihe, also die Häuserzeile direkt am Meer, zeigt auch im Zentrum von Roses den Lauf der Dinge an. Es gibt Kneipen, gewiss, vor allem aber gibt es Makler. Büros stehen dicht an dicht. Die traditionellen Geschäfte zogen sich in die Gassen zurück, es gibt noch eine wunderbar farbenfrohe Fisch- und Gemüsehalle im Ortskern, es gibt noch das typische Spanien. Aber auch Roses ist im Umbruch.

Jetzt im Frühjahr dient der Ort als Basis für unsere Wanderungen am Cap de Creus, er ist fast menschenleer, im Sommer wird die ganze Bucht dann für Tausende von Touristen ein Badeziel sein. Jetzt gelingt es uns, eine Stunde am Cap zu wandern, ohne auf andere Urlauber zu stoßen. Jetzt ist das Cap magisch schön, wie es sich immer und immer noch weiter ins Mittelmeer vorarbeitet und am Schluss nur noch aus ein paar chaotisch und wirr hingeworfenen Felsen besteht, die aus dem Blau des Wassers emporragen.
Die letzten Stunden herüber nach Cadaqués gehen wir fast schweigend, alle sind müde, es wird dunkel, als wir endlich ankommen. Der Bus bringt uns über die Berge zurück nach Roses.

Eine ganze Reihe von Wanderungen sind hier möglich, zu den schönsten gehört unser Weg von Roses nach Cadaqués, aber auch der Aufstieg vom Fischerörtchen El Port de la Selva gleich an der französischen Grenze hinauf zum ehemaligen Kloster Sant Pere de Rodes. Das Kloster schmiegt sich an die Nordflanke des Sant Salvador Saverdera, auf dem Gipfel in 669 Metern Höhe über dem Meer steht noch ein verfallenes Kastell. An guten Tagen überblickt man von hier aus die ganze Halbinsel, bei unserer Wanderung ist der Gipfel in Nebel und Wolken getaucht, das Licht spielt mit uns und wir sehen einmal zehn Meter und plötzlich wieder zehn Kilometer weit.

Noch mehr ergreift uns das ehemalige Kloster der Benediktiner. Seine Anfänge verlieren sich in der Zeit der Völkerwanderung, es muss dort schon im sechsten Jahrhundert nach Christus eine Einsiedelei gestanden haben. Die Kirche stammt aus dem zehnten und elften Jahrhundert, in dieser Zeit ergriff die Abtei eine Führungsrolle in der ganzen Region und erlebte ihre Blüte. Sie ist stark befestigt. Ihr Niedergang begann schon im 14. Jahrhundert. Piraten und schließlich auch Franzosen dezimierten den Orden und raubten die Besitztümer. Heute zählt das Kloster zu den kunsthistorischen Schätzen Kataloniens und zu dessen meistbesuchten Denkmälern. Bereits 1930 begannen die Restaurierungsarbeiten. Heute sind große Teile der Anlage begehbar, spektakuläre Anblicke bieten der Wehrturm und der Glockenturm.

Es gibt noch mehr zu sehen auf der Halbinsel, das Haus von Salvador Dali in Portlligat, das ein Museum ist, das Kastell mit der antiken Ausgrabungsstätte in Roses — vor allem aber liegt das Cap de Creus nur noch eine gute Fahrstunde von Barcelona entfernt. Die magische Stadt, Austragungsort der Olympischen Sommerspiele 1992, ist von Roses aus mit dem Bus zu erreichen, und es wäre ein unverzeihliches Versäumnis, sie nicht wenigstens einmal im Leben gesehen zu haben. Wir bleiben sogar eine Nacht im Barri Gòtic, dem ältesten Viertel der Metropole, in einem Hotel unmittelbar neben der Kathedrale.

Barcelona lässt Langeweile nicht zu, es bietet genug für ein Jahr, für jede Nacht und für jeden Tag: Es hat die Sonne und das Meer, es hat Kunst und Architektur, die Fundació Juan Miró, das Museu Picasso, Antoni Gaudis Parc Güell, seine Fantasiekirche Sagrada Familia, die Flaniermeile La Rambla, den Hafen, die Kneipen, den großen Markt Boquería, das Alte und das Neue, Vergangenheit und Zukunft, Leben und Tod, Dreck und Pracht in schonungsloser und faszinierender Koexistenz. Es ist die schönste Stadt Europas. Die Woche in Nordspanien ist zu Ende, wir kehren nach Freiburg zurück, wie wir hergekommen sind: mit dem Bus. Das ging viel besser als gedacht, es war eine entspannte und entspannende Reise fast von Haustür zu Haustür, mit Pausen und Gelegenheiten, nette Menschen kennen zu lernen, mit genügend Stauraum für Geschenke und spanischen Wein — für die unvernünftigen Momente im Leben.

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